Luft

„Ich trau’s mich kaum zu sagen.“ sagt meine Freundin am Telefon. „Ich trau’s mich kaum zu sagen, aber mir geht’s hervorragend. Vielleicht so gut, wie seit Jahren nicht. Ich fühl mich richtig frei!“ brichts aus ihr heraus.

 

Und dann erklärt sie mir, warum das so ist.

 

„Weißt du, man hat ja so einen unsichtbaren Kreis um sich herum. Da lässt man nicht jeden rein. Es gibt sogar Studien zum Durchmesser dieses Kreises. Der ist wohl von Kultur zu Kultur unterschiedlich groß. Bei uns ist der so bei 60 cm.

Und weißt du was? 60 cm, das ist mir immer viel zu nah.

Aber sag das mal einem! Oder geh nen Schritt zurück! Oder schieb die Hand weg, die dir jemand auf den Arm legt, den du kaum kennst. Oder sag, nee, lass mal, das mit dem Bussi-Bussi. Dann bist du die Zicke. Unfreundlich und kühl und distanziert. Dabei bin ich das ja gar nicht! Du weißt, dass ich so nicht bin. Mein Kreis ist halt einfach nur größer. …und ich fang jetzt gar nicht an mit den Grabschern, die sich so gern in Menschenansammlungen verstecken. Seit Corona hat mir morgens in der U-Bahn jedenfalls keiner mehr ‚zufällig‘ an den Hintern gefasst. Das tut mir so gut, das kann ich dir gar nicht sagen.“

 

Und sie lacht am Telefon, so befreit und laut. Und ich denk, ich hab dieses Lachen schon seit unseren Jugendtagen nicht mehr gehört.

 

„Überall hör ich: wir können wir uns ja gar nicht mehr gegenseitig zeigen, dass wir‘s gut miteinander meinen.“ fährt sie fort. „Das unterstellt ja Leuten wie mir, dass wir das gar nicht könnten. Als ob man sich das nur zeigen könnte, wenn man sich auf 60cm Distanz befindet!

Mir geht es genau andersrum: jetzt sind alle endlich auf eine Art freundlich zu mir, die mir gut tut. Jetzt bin ich nicht mehr die Distanzierte. Jetzt sieht man mich einfach so, wie ich bin. Weil alle Abstand halten müssen, nicht nur ich.“

Sie lacht wieder.

„Jetzt können die alle mal von mir lernen, dass man sich trotzdem lieb haben kann, ganz ohne sich gegenseitig auf die Pelle zu rücken. Das ist jetzt sozusagen meine Superkraft.“

 

Sie denkt nach.

„Wenn ich mit dir so drüber rede, fällt mir auf, dass ich immer das Gefühl hatte, mit mir ist was verkehrt. Aber weißt du was? An mir ist rein gar nichts verkehrt. Ich brauche eben einfach nur ein bisschen mehr Luft um mich herum.“

 

[von Vikarin Natalie Schreiber]

[Bild von Emma Simpson | Unsplash]

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Elisabeth Buck (Samstag, 04 April 2020 11:47)

    Wunderbar, ganz wunderbar!
    Jetzt müssen die Leute, die sonst die 60 Zentimeter Nähe praktizieren, nur noch lernen, dass man auf die größere Entfernung einander zulächeln kann. Das fehlt den Kunden bei Rewe oder Nahkauf oder dm noch. Alle senken verschreckt den Blick, als ob man sich über den freien Blick anstecken könnte. Aber wir üben noch. :)

  • #2

    Susanne Freund (Samstag, 04 April 2020 17:05)

    Ja, ich denke, man sollte es jeden zugestehen, wenn er nicht so viel Nähe möchte.

    Aber Freundlichkeit, Dankbarkeit und Höflichkeit ist auch mit mehr Distanz möglich - und das Interesse an meinem Gegenüber!!